Am 21. Juni 2014 veröffentlichte „Die Tagespost“ ein Gespräch mit P. Sylvester Heereman LC. P. Sylvester gehört seit Februar 2014 dem neuen Generalrat der Legionäre Christi an. Bis Juni 2012 war er der Ordensprovinzial der Legionäre Christi für Mitteleuropa und dann bis zum Beginn des Generalkapitels Ende 2013 der Generalvikar der ganzen Ordensgemeinschaft. Im Folgenden finden Sie das Gespräch im Volltext.
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Die Legionäre Christi haben zu Beginn des Jahres eine neue Etappe ihrer jungen Ordensgeschichte beschritten: mit einem Schuldbekenntnis im Rahmen eines außerordentlichen Generalkapitels und der Wahl eines neuen Kapitels. Die Gemeinschaft ist entschlossen, sich zu erneuern, hat ihre Statuten überarbeitet und ihre Beziehung zum Gründer der Legion, Pater Marcial Maciel Degollado, neu bestimmt. Über die Ruhe nach dem Sturm sprach Regina Einig mit Pater Sylvester Heereman LC, dem Provinzial der Ordensprovinz Mitteleuropa, der dem Generalrat der Legionäre Christ angehört.
Seit dem Generalkapitel der Legionäre im Januar und Februar ist es wieder etwas stiller um die Legionäre geworden. Ist das ein gutes Zeichen aus Ihrer Sicht?
Ja, es zeigt, dass die Normalität wieder eingekehrt ist und wir uns jetzt wieder stärker dem Kern unseres Priester- und Ordenslebens widmen können: dem Dienst an der jeweiligen Aufgabe und der Umsetzung der vielen guten Vorsätze des Generalkapitels.
Der Orden hat nach eigenen Angaben Fortschritte im Erneuerungsprozess gemacht. Wie sehen diese Fortschritte konkret aus?
Für mich und für viele andere Mitbrüder ist der Fortschritt nach diesem langen und auch schwierigen Prozess ein Neuausrichten auf den Kern der priesterlichen Berufung und auf unsere Identität als Legionäre Christi in der Kirche. In dieser Zeit haben wir die Brüderlichkeit neu entdeckt. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass wir uns als Mitbrüder in der Gemeinschaft gegenseitig brauchen. Wir müssen uns aber auch gegenseitig akzeptieren und verstehen. In den letzten drei Jahren sind unter uns Unterschiede in der Einschätzung vieler Themen aufgetreten. Wir haben gelernt, diese Verschiedenheit wirklich zu schätzen und in ein Potenzial zu verwandeln. Darüber hinaus haben wir jetzt eine neue Ordensleitung und eine neue Ordensregel, die noch vom Heiligen Stuhl approbiert werden muss. Da der päpstliche Delegat schon vorab grünes Licht gegeben hat, gehe ich davon aus, dass sie ohne all zu viele Änderungen approbiert wird.
Welche Änderungen hat es in der Ordensregel gegeben?
Da hat sich vieles getan: Die alte Ordensregel war viel umfangreicher. Sie hatte über 800 Nummern, die sehr ins Detail gingen und war sehr auf konkrete Disziplin ausgerichtet. Außerdem enthielt sie einige Nummern aus dem alten Kirchenrecht, das bis 1983 gültig war. Die Änderungen betreffen vor allem die Ausübung der Autorität und die Dezentralisierung. Die Provinzoberen haben nun sehr viel mehr Spielräume. Die Legionäre Christi waren eine Ordensgemeinschaft, in der fast alle Entscheidungen im Generalat getroffen wurden. Bei einer kleinen Ordensgemeinschaft geht das. Aber wir sind von den 80er bis zum Beginn der 2000er Jahre sehr stark gewachsen. Subsidiarität ist auch für einen Orden die bessere Lösung. Darüber verstärkt die neue Regel die Kontrolle der jeweiligen Oberen durch einen Rat, der sie begleitet. Auch andere Gremien, das Generalkapitel und die Provinzialkapitel, sorgen dafür, dass nicht ein Einzelner zu viel Autorität und Macht hat. Die Amtszeit des Generaloberen und seines Rates beträgt nun sechs Jahre. Früher waren es zwölf.
Wie zeigen sich die Änderungen konkret? Könnten Sie noch ein Beispiel geben?
Die alte Ordensregel legte großen Wert auf Disziplin. Dort wurden sehr detailliert in allen Lebensbereichen Verhaltensweisen vorgegeben – was durchaus auch seine Tradition im Ordensleben hat. Aber ein moderner Orden will in erster Linie reife und verantwortliche Christen ausbilden und nicht Männer, die zwar Regeln erfüllen, aber nicht ihr Leben und auch ihren Auftrag in der Kirche in die Hand nehmen können. Da hat sich der Blickwinkel geändert. Der Schwerpunkt geht gerade in der Ausbildung und auch später für die ausgebildeten Priester in die Richtung, zu fragen: Welches Ideal legt Christus uns im Evangelium vor? Wonach streben wir? Und was sind die wichtigen Prinzipien? Wie sie angewandt werden, liegt nun stärker in der Verantwortung des Einzelnen. Auch in der Ausbildung haben wir selbstkritisch überlegt, wie wir unsere Leute angemessen auf ihre Sendung besser vorbereiten können. In dem Bereich haben wir uns viel vorgenommen.
Könnten Sie gerade bei der Disziplinfrage dem Leser noch ein Beispiel geben: Es war früher sehr detailliert – wo gibt es jetzt mehr Ermessensspielräume?
Wir hatten z.B. früher sehr detaillierte Tagespläne, in denen für die gesamte Gemeinschaft festgelegt war, wann was getan wird: eineinhalb Stunden Zeit für das Studium, Pause, dann ist Sport etc. Der Tagesablauf ist jetzt weniger detailliert geregelt und nur die gemeinsamen Tätigkeiten sind festgelegt. Für den Rest ist jeder Einzelne selbst verantwortlich.
Betrifft die Erneuerung des Ordens auch die Laien im Regnum Christi?
Ja. Im Regnum Christi gibt es gottgeweihte Männer und Frauen, die zwar Laien sind, aber auch in Keuschheit, Armut und Gehorsam leben. Früher waren deren Vorgesetzte Legionäre Christi, der Provinzial oder der Generalobere. Das hat sich geändert. Sie haben jetzt ihre eigenen Leitungsstrukturen und sind vollkommen selbstständig, sodass das weniger ein Gehorsamsverhältnis ist, sondern viel mehr eine familiäre Beziehung besteht. Es war früher so, dass der Priester ausschließlich als Vater gesehen wurde und die anderen als Kinder. Jetzt betrachten sie sich eher als Geschwister. Im Bereich der Zusammenarbeit mit den Mitgliedern von Regnum Christi, die verheiratet sind und in der Welt leben, ist der Erneuerungsprozess noch nicht abgeschlossen.
Die Legionäre Christi galten lange als besonders nachwuchsstark. Gilt das heute auch noch?
Wir haben gottlob weiterhin Nachwuchs. In den letzten Jahren sind die Eintritte natürlich zurückgegangen aufgrund des Skandals und der Verunsicherung. Vor drei Jahren gab es einen historischen Tiefpunkt: Damals hatten sich die Eintritte halbiert auf 80 Kandidaten weltweit. Im letzten Jahr waren es wieder um die 100. Wir wachsen gottlob weiterhin, wenn auch nicht mehr so rasant wie vorher. Wahrscheinlich wird das auch vorerst so bleiben.
Im neuen Generalrat dominieren jüngere Europäer. Entspricht das weltweit gesehen auch der Zusammensetzung Ihres Ordens?
Nein, die größte Gruppe im Orden sind die Mexikaner, dann kommen die US-Amerikaner, die sind diesmal gar nicht im Generalrat vertreten, und dann die Südamerikaner. Erst dann folgen Deutsche, Spanier, Franzosen. Es ist bei uns traditionell so, dass wir nicht fragen, wo der Einzelne herkommt. Es kommt deshalb nicht darauf an, dass von jedem Kontinent einer dabei ist. Da wir alle in Rom ausgebildet werden und alle Spanisch sprechen und viele während ihrer Ausbildung in verschiedenen Ländern waren, spielt die Herkunft keine so große Rolle.
Der neue Generalobere Eduardo Robles Gil hat die Krise in einem Interview als eine Chance bezeichnet. War die Leidenszeit der Legionäre auch eine Bereicherung?
Sicher. Ich muss immer an einen Satz von Papst Franziskus denken: Kein menschliches Leben ist so kaputt oder so schiefgegangen, dass kein Platz mehr für Gott wäre. Das haben wir erlebt. Als der ganze Skandal um den Gründer hochging, haben auch viele von uns gedacht: Schwamm drüber, am besten, wir machen den Laden dicht und schicken alle nach Hause. Aber Papst Benedikt und Papst Franziskus haben auch in diesem Teil unserer Geschichte Spuren Gottes gesehen, uns auf die Spurensuche geschickt und daran geglaubt, dass diese geistliche Familie in der Kirche trotz ihrer schrecklichen Geschichte noch zu retten ist. Das ist für mich persönlich ein sehr ermutigendes Zeichen und auch eine Botschaft: Gott ist treu und seine Barmherzigkeit kann vieles hinbiegen, was einmal aus dem Ruder gelaufen ist.
Welche Hilfen und Personen würden Sie rückblickend als entscheidend bewerten? Was hat den Orden in der Krise wirklich vorangebracht?
An erster Stelle Papst Benedikt: Er hätte gut und gerne sagen können: Wir machen jetzt Schluss. Das hatten ja auch viele vorgeschlagen. An zweiter Stelle der päpstliche Delegat Kardinal De Paolis. Er hat es verstanden, uns auf sehr respektvolle und geduldige Weise auf diesem Weg zu führen. Wir waren uns größtenteils unserer eigenen Bedürftigkeit und unserer eigenen Schwächen als Institution auch nicht bewusst. Es entsteht so eine Betriebsblindheit – wir sind ja vorher sehr gewachsen, haben uns ausgebreitet. In einer Krise weiß man dann gar nicht, wo man anfangen soll. Und an dritter Stelle sind alle Mitbrüder zu nennen, die die Hoffnung nicht aufgegeben haben und den Weg der Erneuerung mitgetragen haben. Manche haben unterwegs die Hoffnung verloren und gedacht, der Orden sei nicht zu retten. Aber auch sie haben sicher geholfen, dass wir den Weg gefunden haben, weil sie, wenn sie gegangen sind, uns auf bestimmte Punkte aufmerksam gemacht haben. Daraus konnten wir lernen.
Pflegt der Orden noch ein Gedenken an den Gründer? Wie halten Sie es mit Bildern, mit seinen Schriften, mit seiner Grabstätte?
Wir haben am 6. Februar, als auch die Ordensleitung bekannt gemacht wurde, eine erste Stellungnahme des Generalkapitels zu unserer Geschichte veröffentlicht. Man kann sie so zusammenfassen: Ja, er ist unser Gründer – wir versuchen nicht, das zu leugnen, oder ihn aus der Geschichte zu tilgen, als hätte es ihn nicht gegeben. Wir müssen dazu stehen, dass er unser Gründer ist. Die Kirche hat uns als Orden anerkannt und tut es auch weiterhin, obwohl wir diesen Gründer haben. Aber er ist kein Vorbild, und er ist streng genommen kein geistlicher Vater, weil sein Leben kein Vorbild ist. Seine Schriften – auch wenn sie rechtgläubig sind und keine dogmatischen Fehler enthalten – sind nicht wirklich von der Person zu trennen. Wir sind vorsichtig in der Darstellung. In den Häusern hängen jetzt tatsächlich keine Bilder und seine Schriften werden in der Ausbildung nicht genutzt. Sie sind nicht verbrannt oder verboten worden, aber sie werden in der Ausbildung nicht mehr genutzt, um keine Verwirrung zu stiften oder doch irgendeinen heimlichen Kult aufzubauen.
Ihr neuer Generaloberer hat sich bei den Opfern entschuldigt. Gab es da auch Reaktionen?
Schon vor dem Generalkapitel haben Begegnungen mit Opfern stattgefunden. Der neue Generalobere war ja selbst Mitglied der Begegnungskommission für Opfer. Alle, die dort mit ihm gesprochen haben, haben positiv darauf reagiert. Es gibt Einzelne, von denen wir wissen, dass sie sich als Opfer bezeichnen, ohne sich der Kommission genähert zu haben. Unsere Aufgabe ist es weiterhin, unsere Hand auszustrecken, natürlich auch im Respekt davor, dass Einzelne keinen Kontakt wollen. Es gibt sicher Menschen, die durch die Art und Weise, wie wir versucht haben, damit umzugehen, ihren Frieden gefunden haben, andere noch nicht. Das ist eine bleibende Aufgabe, ihnen zur Verfügung zu stehen.
Wie würden Sie heute das Charisma der Legionäre beschreiben?
Unsere Aufgabe in der Kirche besteht darin, die Erfahrung der Apostel in der Kirche lebendig zu halten. Letztlich ist jeder Christ in der gleichen Position wie die Apostel nach Pfingsten. Wir sind Menschen, die Jesus begegnet sind, die Zeit mit ihm verbracht und ihn persönlich kennen gelernt haben, die von ihm in die Nachfolge gerufen wurden, die an seine Gegenwart als Auferstandener unter uns glauben, und die wissen, dass sie seinen Geist empfangen haben, um sein Werk fortzusetzen. Diese Erfahrung zu machen und anderen zu vermitteln, ist unser Sinn und Zweck in der Kirche.