Samstag, 5. Oktober 2013

Schreiben Johannes Paul II zum Gründonnerstag 2001

Liebe Brüder im Priesteramt!

1. An dem Tag, da der Herr Jesus der Kirche die Eucharistie geschenkt und mit ihr unser Priestertum eingesetzt hat, kann ich nicht umhin, an euch - wie es nun schon Tradition ist - ein freundschaftliches, ja ich möchte sagen, vertrauliches Wort zu richten und damit den Wunsch zu verbinden, Dank und Lob mit euch zu teilen.

Lauda Sion, Salvatorem, lauda ducem et pastorem, in hymnis et canticis! Wahrlich groß ist das Geheimnis, dessen Diener wir geworden sind: Geheimnis einer grenzenlosen Liebe, denn »da er die Seinen, die in der Welt waren, liebte, erwies er ihnen seine Liebe bis zur Vollendung« (Joh 13,1); Geheimnis der Einheit, die sich aus den Quellen des trinitarischen Lebens auf uns ergießt, um uns »eins« zu machen in der Gabe des Geistes (vgl. Joh 17); Geheimnis der göttlichen diakonia, die das fleischgewordene Wort seinem Geschöpf die Füße waschen läßt und damit im Dienst den hohen Weg jeder echten Beziehung der Menschen untereinander aufzeigt: »Wie ich gehandelt habe, so sollt auch ihr handeln...« (vgl. Joh 13,15).

Wir sind in besonderer Weise Zeugen und Diener dieses großen Geheimnisses geworden.

2. Dieser Gründonnerstag ist der erste nach dem Großen Jubiläum. Die Erfahrung, die wir zweitausend Jahre nach der Geburt Jesu mit unseren Gemeinden bei der Feier der Barmherzigkeit gemacht haben, wird nun zum Ansporn, den Weg weiterzugehen. Duc in altum! Der Herr fordert uns auf, seinem Wort zu trauen und wieder auf den See hinauszufahren. Beherzigen wir die Erfahrung des Jubiläumsjahres und setzen wir das engagierte Zeugnis für das Evangelium mit der Begeisterung fort, die in uns die Betrachtung des Antlitzes Christi weckt!

Denn wie ich in dem Apostolischen Schreiben Novo millennio ineunte unterstrichen habe, müssen wir wieder von ihm ausgehen, um uns in ihm mit dem Seufzen des Geistes, »das wir nicht in Worte fassen können« (Röm 8,26), der Umarmung des Vaters zu öffnen: »Abba, Vater!« (Gal 4,6). Wir müssen wieder von ihm ausgehen, um die Quelle und tiefe Logik unserer Brüderlichkeit neu zu entdecken: »Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben« (Joh 13,34).

3. Ich möchte heute jedem von euch danken für alles, was ihr während des Jubiläumsjahres getan habt, damit das Volk, das eurer Sorge anvertraut ist, möglichst tief in die Heilsgegenwart des auferstandenen Herrn eindringe. Ich denke in diesem Augenblick auch an die Arbeit, die ihr tagtäglich leistet: eine oft verborgene Arbeit, die zwar keine Schlagzeilen macht, aber das Reich Gottes in die Gewissen der Menschen eindringen läßt. Ich spreche euch meine Bewunderung aus für diesen unaufdringlichen, beharrlichen, kreativen Dienst, wenn er auch manchmal durchtränkt ist von jenen Tränen der Seele, die nur Gott sieht und »in seinem Krug sammelt« (vgl. Ps 56,9). Er ist ein Dienst, der um so mehr Achtung verdient, je stärker er den Widerstand einer weithin säkularisierten Umgebung zu spüren bekommt, die das Wirken des Priesters der Anfechtung von Erschöpfung und Entmutigung aussetzt. Ihr wißt es wohl: In den Augen Gottes ist dieser tägliche Einsatz wertvoll.

Gleichzeitig möchte ich mich zur Stimme Christi machen, der uns aufruft, unsere Beziehung zu ihm immer mehr zu stärken. »Ich stehe vor der Tür und klopfe an« (Offb 3,20). Als Verkündiger Christi sind wir vor allem eingeladen, in enger Vertrautheit mit ihm zu leben: Man kann den anderen nicht geben, was wir selber nicht haben! Es gibt einen Durst nach Christus, der sich trotz vieler gegenteiliger Erscheinungen auch in unserer modernen Gesellschaft zeigt, der unter den Widersprüchen neuer Spiritualitätsformen zum Vorschein kommt, der sogar dann sichtbar wird, wenn bei den großen ethischen Kernfragen das Zeugnis der Kirche zum Zeichen des Widerspruchs wird. Dieser - mehr oder weniger bewußte - Durst nach Christus läßt sich nicht mit leeren Worten stillen. Nur echte Zeugen können das rettende Wort glaubwürdig ausstrahlen.

4. Im Apostolischen Schreiben Novo millennio ineunte habe ich gesagt, daß das wahre Erbe des Großen Jubiläums die Erfahrung einer intensiveren Begegnung mit Jesus Christus ist. Unter den vielen Sichtweisen dieser Begegnung möchte ich heute für diese Überlegung die sakramentale Versöhnung auswählen: Das ist übrigens ein Aspekt, der auch deshalb im Mittelpunkt des Jubiläumsjahres stand, weil er eng mit dem Geschenk des Ablasses zusammenhängt.

Ich bin sicher, daß auch ihr in den Ortskirchen damit Erfahrungen gemacht habt. Hier in Rom war der bemerkenswerte Zustrom von Menschen zum Sakrament der Barmherzigkeit gewiß eines der auffälligsten Phänomene des Jubiläums. Auch Laien, die es beobachtet haben, waren davon beeindruckt. Die Beichtstühle in Sankt Peter ebenso wie in den anderen Basiliken wurden geradezu »bestürmt« von den Pilgern, die sich oft in langen Schlangen anstellen und geduldig warten mußten, bis sie an der Reihe waren. Besonders bezeichnend war das Interesse, das die Jugendlichen in der wunderbaren Woche ihres Jubiläums für dieses Sakrament zeigten.

5. Ihr wißt nur zu gut, daß dieses Sakrament in den vergangenen Jahrzehnten aus verschiedenen Gründen eine gewisse Krise zu verzeichnen hatte. Um ihr zu begegnen, wurde im Jahr 1984 eine Bischofssynode abgehalten, deren Schlußfolgerungen in das Nachsynodale Apostolische Schreiben Reconciliatio et paenitentia eingeflossen sind.

Es wäre naiv zu glauben, daß allein der verstärkte Empfang des Sakramentes der Vergebung im Jubiläumsjahr der Beweis für eine nunmehr eingetretene Tendenzwende sei. Dennoch handelte es sich um ein ermutigendes Signal. Es drängt uns zu der Erkenntnis, daß man die tiefgründigen Bedürfnisse des menschlichen Geistes, auf die Gottes Heilsplan Antwort gibt, von vorübergehenden Krisen nicht auslöschen kann. Dieses Zeichen des Jubiläums muß man als eine Weisung von oben aufgreifen und zum Anlaß machen, mit neuem Mut den Sinn und die Praxis dieses Sakraments wieder vorzustellen.

6. Aber ich will nicht so sehr bei der pastoralen Problematik verweilen. Der Gründonnerstag als eigentlicher Tag unserer Berufung ruft uns dazu auf, vor allem über unser »Sein« und insbesondere über unseren Weg der Heiligkeit nachzudenken. Daraus entspringt dann auch der apostolische Eifer.

Wenn wir also auf Christus beim Letzten Abendmahl blicken, der sich zum »gebrochenen Brot« für uns machte und sich in demütigem Dienst zu den Füßen der Apostel niederbeugte, müssen wir da nicht angesichts der Größe der empfangenen Gabe dasselbe Gefühl von Unwürdigkeit empfinden wie Petrus? »Niemals sollst du mir die Füße waschen!« (Joh 13,8). Petrus hatte unrecht, die Geste Christi zurückzuweisen. Aber er hatte recht, sich ihrer unwürdig zu fühlen. An diesem Tag, dem Tag der Liebe schlechthin, kommt es darauf an, daß wir die Gnade des Priestertums als ein Übermaß an Barmherzigkeit empfinden.

Barmherzigkeit ist das absolute Ungeschuldetsein, mit dem Gott uns erwählt hat: »Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt« (Joh 15,16).

Barmherzigkeit ist das Entgegenkommen, mit dem er uns beruft, an seiner Stelle zu handeln, obwohl er weiß, daß wir Sünder sind.

Barmherzigkeit ist die Vergebung, die er uns niemals verweigert, so wie er sie Petrus nach der Verleugnung nicht verwehrt hat. Auch für uns gilt die Beteuerung, wonach »im Himmel mehr Freude herrschen wird über einen einzigen Sünder, der umkehrt, als über neunundneunzig Gerechte, die es nicht nötig haben umzukehren« (Lk 15,7).

7. Entdecken wir also wieder unsere Berufung als »Geheimnis der Barmherzigkeit«. Im Evangelium stoßen wir darauf, daß Petrus gerade mit dieser geistlichen Haltung sein besonderes Amt empfängt. Seine Geschichte ist Vorbild für alle, die in den verschiedenen Graden des Weihesakramentes den apostolischen Auftrag empfangen haben.

Unsere Gedanken kehren zurück zum wunderbaren Fischfang, wie er im Lukasevangelium (5,1-11) beschrieben ist. Jesus verlangt von Petrus einen Akt des Vertrauens in sein Wort, als er ihn auffordert, zum Fischfang auf den See hinauszufahren. Eine menschlich befremdliche Forderung: Wie soll er ihm glauben, nachdem er eine schlaflose Nacht voller Mühen, aber letztlich ergebnislos damit verbracht hat, die Netze auszuwerfen? Aber der nochmalige Versuch »auf Jesu Wort hin« ändert alles. Die Fische gehen in solchen Mengen in die Netze, daß diese zu zerreißen drohen. Das Wort enthüllt seine Macht. Darüber erhebt sich Staunen, aber zugleich auch Furcht und Schrecken, wie wenn man plötzlich von einem intensiven Lichtstrahl getroffen würde, der alle eigenen Grenzen freilegt. Petrus ruft aus: »Herr, geh weg von mir; ich bin ein Sünder« (Lk 5, 8). Aber kaum hat er sein Bekenntnis zu Ende gesprochen, da wird die Barmherzigkeit des Meisters für ihn zum Anfang eines neuen Lebens: »Fürchte dich nicht! Von jetzt an wirst du Menschen fangen« (Lk 5,10). Der »Fischer« wird zum Diener der Barmherzigkeit. Der einst Fische fing, wird nun zum »Menschenfischer«!

8. Das ist ein großes Geheimnis, liebe Priester: Christus hatte keine Angst, seine Diener unter den Sündern auszuwählen. Ist das nicht unsere Erfahrung? Wieder trifft es Petrus, dem dies in dem ergreifenden Gespräch mit Jesus nach der Auferstehung noch lebendiger bewußt wird. Bevor ihm der Meister das Hirtenamt überträgt, stellt er ihm die peinliche Frage: »Simon, Sohn des Johannes, liebst du mich mehr als diese?« (Joh 21,15). Der Angesprochene ist derjenige, der ihn einige Tage zuvor dreimal verleugnet hat. Man versteht gut den demütigen Ton seiner Antwort: »Herr, du weißt alles; du weißt, daß ich dich liebhabe« (ebd., Vers 17). Auf Grund dieser Liebe in Erfahrung der eigenen Schwäche, einer ebenso bange wie vertrauensvoll eingestandenen Liebe, erhält Petrus das Amt: »Weide meine Lämmer«, »Weide meine Schafe« (ebd., Verse 15.16.17). Auf Grund dieser Liebe, noch gestärkt vom Feuer an Pfingsten, wird Petrus das empfangene Amt erfüllen können.

9. Und entsteht nicht auch die Berufung des Paulus in einer Erfahrung der Barmherzigkeit? Keiner hat wie er die Ungeschuldetheit der Wahl Christi empfunden. Seine Vergangenheit als verbissener Verfolger der Kirche wird ihm immer auf der Seele brennen: »Denn ich bin der geringste von den Aposteln; ich bin nicht wert, Apostel genannt zu werden, weil ich die Kirche Gottes verfolgt habe« (1 Kor 15,9). Und dennoch wird diese Erinnerung keineswegs seine Begeisterung schwächen, sondern ihn immer wieder beflügeln. Je mehr er von der Barmherzigkeit umfangen wurde, desto mehr fühlt er das Bedürfnis, sie zu bezeugen und auszustrahlen. Die »Stimme«, die ihn auf dem Weg nach Damaskus erreicht, führt ihn zum Herzen des Evangeliums und läßt ihn dieses als barmherzige Liebe des Vaters entdecken, der in Christus die Welt mit sich versöhnt. Auf dieser Grundlage wird Paulus auch den apostolischen Dienst als Dienst der Versöhnung verstehen: »Aber das alles kommt von Gott, der in Christus die Welt mit sich versöhnt und uns den Dienst der Versöhnung aufgetragen hat. Ja, Gott war es, der in Christus die Welt mit sich versöhnt hat, indem er den Menschen ihre Verfehlungen nicht anrechnete und uns das Wort von der Versöhnung zur Verkündigung anvertraute« (2 Kor 5,18-19).

10. Die Zeugnisse von Petrus und Paulus, liebe Priester, enthalten für uns wertvolle Hinweise. Sie fordern uns auf, mit einem Gefühl unendlicher Dankbarkeit das Geschenk des Dienstamtes zu leben: Wir haben nichts verdient, alles ist Gnade! Zugleich veranlaßt uns die Erfahrung der beiden Apostel, uns der Barmherzigkeit Gottes zu überlassen, um in ehrlicher Reue unsere Schwächen bei ihm abzuladen und mit seiner Gnade unseren Weg der Heiligkeit wieder aufzunehmen. In Novo millennio ineunte habe ich auf das Bemühen um Heiligkeit als den Hauptpunkt einer klugen pastoralen »Planung« hingewiesen. Es ist die grundlegende Verpflichtung aller Gläubigen; um wieviel mehr muß es das also für uns sein (vgl. Nr. 30-31)!

Zu diesem Zweck ist es wichtig, daß wir das Sakrament der Versöhnung als grundlegendes Mittel unserer Heiligung wiederentdecken. An einen priesterlichen Mitbruder herantreten, um ihn um jene Absolution zu bitten, die wir selbst so oft unseren Gläubigen erteilen, das läßt uns die große und tröstliche Wahrheit erleben, daß wir, noch ehe wir Amtsträger sind, Glieder eines einzigen Volkes sind, eines Volkes von »Erlösten«. Was Augustinus von seiner bischöflichen Aufgabe sagte, gilt auch für den priesterlichen Dienst: »Auch wenn es mich erschreckt, für euch dazusein, so tröstet es mich, mit euch zu sein. Für euch bin ich Bischof, mit euch bin ich Christ ... Jener ist der Name für eine Gefahr, dieser für die Rettung« (Sermones, 340,1). Es ist schön, unsere Sünden bekennen zu können und wie Balsam das Wort zu vernehmen, das uns mit Barmherzigkeit überströmt und auf den Weg zurückbringt. Nur wer die Zärtlichkeit der Umarmung des Vaters gespürt hat, wie sie das Evangelium im Gleichnis vom verlorenen Sohn beschreibt - »er fiel ihm um den Hals und küßte ihn« (Lk 15,20) -, vermag dieselbe Herzlichkeit an die anderen weiterzugeben, wenn er vom Empfänger der Vergebung zu ihrem Ausspender wird.

11. So laßt uns an diesem heiligen Tag Christus bitten, daß er uns helfe, die Schönheit dieses Sakramentes für uns selbst in Fülle neu zu entdecken. War es nicht Jesus selbst, der Petrus bei dieser Entdeckung half? »Wenn ich dich nicht wasche, hast du keinen Anteil an mir« (Joh 13,8). Sicher, Jesus bezog sich hier nicht direkt auf das Sakrament der Versöhnung, aber er zielte es gleichsam an, indem er auf jenen Reinigungsprozeß anspielte, den sein Erlösungstod und der sakramentale Heilsplan, der auf die einzelnen angewandt wird, einleiten sollte.

Greifen wir, liebe Priester, regelmäßig zu diesem Sakrament, damit der Herr ständig unser Herz reinigen kann, indem er uns würdiger macht für die Geheimnisse, die wir feiern. Da wir berufen sind, das Antlitz des Guten Hirten zu verkörpern und somit das Herz Christi selbst zu haben, müssen wir uns mehr als andere die inständige Anrufung des Psalmisten zu eigen machen: »Erschaffe mir, Gott, ein reines Herz, und gib mir einen neuen, beständigen Geist!« (Ps 51, 12). Das für jedes christliche Dasein unverzichtbare Sakrament der Versöhnung erweist sich auch als Hilfe, Orientierung und Medizin des priesterlichen Lebens.

12. So ist es für den Priester, der die freudige Erfahrung der sakramentalen Versöhnung in Fülle macht, ganz selbstverständlich, an die Brüder die Worte des Paulus zu wiederholen: »Wir sind also Gesandte an Christi Statt, und Gott ist es, der durch uns mahnt. Wir bitten an Christi Statt: Laßt euch mit Gott versöhnen!« (2 Kor 5,20).

Die Krise des Sakraments der Versöhnung, auf die ich zuvor hingewiesen habe, hängt von mannigfachen Faktoren ab: angefangen vom Schwinden des Sündenbewußtseins bis hin zu der geringen Wahrnehmung des sakramentalen Heilsplanes, mit dem Gott uns rettet; doch wir müssen vielleicht zugeben, daß sich manchmal auch ein gewisses Nachlassen unserer Begeisterung oder unserer Verfügbarkeit bei der Ausübung dieses anspruchsvollen und schwierigen Dienstes zum Schaden des Sakraments ausgewirkt haben mag.

Es gilt hingegen mehr denn je, das Sakrament dem Volk Gottes neu zu erschließen. Man muß mit Festigkeit und Überzeugung aufzeigen, daß das Bußsakrament der normale Weg ist, um die Vergebung und den Erlaß der nach der Taufe begangenen schweren Sünden zu erlangen. Das Sakrament muß auf die bestmögliche Weise, in den liturgischvorgesehenen Formen, vollzogen werden, damit es seine volle Gestalt als Feier der göttlichen Barmherzigkeit bewahre.

13. Das Vertrauen auf die Möglichkeit, daß dieses Sakrament wieder neu geschätzt und praktiziert wird, können wir auf Grund der Tatsache zurückgewinnen, daß sich - obgleich unter vielen Widersprüchen - in vielen Bereichen der Gesellschaft nicht nur ein neues Bedürfnis nach Spiritualität abzeichnet, sondern auch das lebhafte Verlangen nach zwischenmenschlicher Begegnung, das sich bei vielen Menschen als Reaktion auf eine anonyme Massengesellschaft durchsetzt, die den einzelnen häufig zu innerer Isolation verurteilt - auch dann, wenn sie ihn in einen Strudel funktionaler Beziehungen hineinzieht. Sicher darf die sakramentale Beichte nicht mit einer praktischen menschlichen Hilfe oder einer psychologischen Therapie verwechselt werden. Man soll jedoch den Umstand nicht unterschätzen, daß das Sakrament der Versöhnung, wenn es recht gelebt wird, mit Sicherheit eine »humanisierende« Rolle spielt, die sich gut mit seinem vorrangigen Wert der Versöhnung mit Gott und mit der Kirche verbindet.

Wichtig ist, daß auch in dieser Situation der Diener der Versöhnung seine Aufgabe gut erfüllt. Seine Fähigkeit zur Annahme, zum Zuhören, zum Dialog und seine stetige Verfügbarkeit sind wesentliche Elemente, damit der Dienst der Versöhnung in seinem ganzen Wert deutlich werden kann. Die getreue und rückhaltlose Verkündigung der radikalen Ansprüche des Wortes Gottes muß den Umgang Jesu mit den Sündern nachahmen und immer mit großem Verständnis und Taktgefühl einhergehen.

14. Sodann gilt es, der liturgischen Gestaltung des Sakramentes die notwendige Bedeutung zu geben. Das Sakrament steht in der Logik der Communio, die das Wesen der Kirche kennzeichnet. Man begreift die Sünde nicht bis zum Letzten, wenn man sie nur als »Privatangelegenheit« versteht und vergißt, daß sie unvermeidlich die ganze Gemeinschaft berührt und den Stand ihrer Heiligkeit sinken läßt. Um so mehr ist das Angebot der Vergebung Ausdruck eines Geheimnisses übernatürlicher Solidarität, deren sakramentale Logik auf der tiefen Einheit beruht, die zwischen Christus, dem Haupt, und seinen Gliedern besteht.

Die Wiederentdeckung dieses »gemeinschaftlichen« Aspekts des Sakramentes auch durch Bußgottesdienste mit der Gemeinde, die mit der persönlichen Beichte und der Einzelabsolution schließen, ist von großer Bedeutung, weil sie den Gläubigen ermöglicht, die doppelte Dimension der Versöhnung besser wahrzunehmen, und sie stärker verpflichtet, ihren Weg der Buße in seiner ganzen erneuernden Fülle zu leben.

15. Da ist noch das Grundproblem einer Katechese über das moralische Bewußtsein und über die Sünde, die die Forderungen des Evangeliums in ihrer Radikalität klarer bewußt machen soll. Es gibt leider eine Tendenz zur Minimalisierung, die das Sakrament daran hindert, alle erstrebenswerten Früchte zu erbringen. Für viele Gläubige wird die Wahrnehmung der Sünde nicht am Evangelium gemessen, sondern an den »Gemeinplätzen«, an der soziologischen »Normalität«, die zu der Meinung verleitet, nicht besonders verantwortlich zu sein für Dinge, die »alle tun«, um so mehr, wenn sie staatlicherseits legalisiert sind.

Die Evangelisierung des dritten Jahrtausends muß der Dringlichkeit einer lebendigen, vollständigen und anspruchsvollen Darbietung der Botschaft des Evangeliums Rechnung tragen. Das Christentum, das es zu bewahren gilt, kann sich nicht auf ein mittelmäßiges Bemühen um Rechtschaffenheit nach soziologischen Kriterien beschränken, sondern muß ein echtes Streben nach Heiligkeit sein. Wir müssen mit neuer Begeisterung das V. Kapitel aus Lumen gentium wiederlesen, das von der universalen Berufung zur Heiligkeit handelt. Christsein heißt, ein »Geschenk« heiligmachender Gnade empfangen, das seine Umsetzung im »Bemühen« um persönliche Entsprechung im täglichen Leben erfahren muß. Nicht von ungefähr habe ich in diesen Jahren versucht, auf breitester Ebene die Anerkennung der Heiligkeit in allen Bereichen, in denen sie zu Tage tritt, zu fördern, damit allen Christen vielfältige Modelle der Heiligkeit angeboten werden können und sich alle daran erinnern, persönlich zu jenem Ziel berufen zu sein.

16. Schreiten wir, liebe Brüder im Priesteramt, in der Freude unseres Dienstes voran im Wissen darum, daß wir den an unserer Seite haben, der uns gerufen hat und der uns nicht verläßt. Die Gewißheit seiner Gegenwart stütze und tröste uns.

Am Gründonnerstag spüren wir noch lebendiger seine Gegenwart, da wir uns in die ergreifende Betrachtung der Stunde versetzen, in der Jesus im Abendmahlssaal sich uns im Zeichen von Brot und Wein hingibt und damit das Kreuzesopfer sakramental vorwegnimmt. Im vergangenen Jahr habe ich euch anläßlich meines Besuches im Heiligen Land aus dem Abendmahlssaal geschrieben. Wie könnte ich jenen ergreifenden Augenblick vergessen? Ich lasse ihn heute wieder lebendig werden, nicht ohne Traurigkeit wegen der Leiden, in denen sich das Land Christi nach wie vor befindet.

Unsere geistliche Begegnung zum Gründonnerstag findet noch immer dort statt - im Abendmahlssaal, während wir vereint um die Bischöfe in den Kathedralen der ganzen Welt das Mysterium vom Leib und Blut Christi leben und uns voll Dankbarkeit der Ursprünge unseres Priestertums erinnern.

In der Freude über das unermeßliche Geschenk, das wir alle gemeinsam empfangen haben, umarme ich euch und segne euch.

Aus dem Vatikan, am 25. März, dem vierten Fastensonntag des Jahres 2001, im 23. Jahr meines Pontifikates.

JOHANNES PAUL II.


 

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