„»Fratelli tutti« schrieb der heilige Franz von Assisi und wandte sich damit an alle Brüder und Schwestern, um ihnen eine dem Evangelium gemäße Lebensweise darzulegen.“ So beginnt die namensgleiche neue Enzyklika von Papst Franziskus. Es geht um Geschwisterlichkeit und soziale Freundschaft in der Welt von heute. Nachdem der Papst die Enzyklika am 3. Oktober 2020 in Assisi unterschrieben hatte, erfolgte heute ihre Veröffentlichung auch in deutscher Sprache.
Im Mittelpunkt des Schreibens steht die „Lehre über die geschwisterliche Liebe“ in ihrer „universalen Dimension“, d.h. hinsichtlich ihrer Öffnung auf alle Menschen hin (vgl. Nr. 6). „Fratelli tutti“ steht damit in der Tradition der päpstlichen Sozialenzykliken. Papst Franziskus entwirft darin einen Traum von Geschwisterlichkeit und sozialer Freundschaft für die ganze Menschheit:
„Träumen wir als eine einzige Menschheit, als Weggefährten vom gleichen menschlichen Fleisch, als Kinder der gleichen Erde, die uns alle beherbergt, jeder mit dem Reichtum seines Glaubens oder seiner Überzeugungen, jeder mit seiner eigenen Stimme, alles Geschwister.“
So geht er im Text (erstes Kapitel) genauso auf Fragen und Grenzen der Marktwirtschaft ein, wie auf die Sorgen und Nöte der älteren Menschen, die aufgrund der Folgen des Corona-Virus besonders leiden müssen, und die globale Flüchtlingsproblematik. Er beschreibt diese und weitere Zusammenhänge vor dem Hintergrund der Menschheitsgeschichte, ihrer Entwicklungen und Rückschritte, unserer Kultur und unseres aktuellen Lebensstils.
Worin kann die Welt und Menschheitsfamilie wieder Mut und Hoffnung finden? Was schenkt Orientierung und Halt? Was sind die Grundlagen für Frieden, Solidarität und Fortschritt? Das zweite Kapitel beginnt Papst Franziskus mit einer entsprechenden Auslegung und umfassenden biblischen Kontextualisierung des Gleichnisses vom barmherzigen Samariter (Lk 10,25-37) – „eine Geschichte, die sich wiederholt“, wie er meint.
Erst jetzt entwirft er, im dritten Kapitel, Perspektiven, um eine „offene Welt denken und schaffen“ zu können. „Ein Mensch kann sich nur entwickeln, sich verwirklichen und Erfüllung finden in »der aufrichtigen Hingabe seiner selbst«“, schreibt Papst Franziskus. Nun gewinnt das christliche Verständnis der Liebe eine universale Dimension und wird erstmals in völlig neue Sinnzusammenhänge eingeführt: auf die Ebene der Städte und Länder, der globalen Welt, Politik und Wirtschaft. In gewisser Weise erscheint hier die Sicht der Dinge eines Papst Franziskus‘ wie der direkte Gegenentwurf zu herrschenden Denkweisen und Geostrategien.
Diese Gedankenansätze verfolgt der Papst in den Kapiteln vier bis sieben weiter und vertieft sie (Kapitel vier: „Ein offenes Herz für die ganze Welt“; Kapitel fünf: „Die beste Politik“; Kapitel sechs: „Dialog und soziale Freundschaft“; Kapitel sieben: „Wege zu einer neuen Begegnung“), bevor er im achten und letzten Kapitel noch einmal die besondere Rolle der Religion „im Dienst an der Geschwisterlichkeit in der Welt“ thematisiert. Womit seine neue Enzyklika auch eine eminent universal-ökumenische Bedeutung gewinnt, ein Aspekt, der vor dem Hintergrund religiös motivierten Terrorismus in den letzten Jahren mehr als gerechtfertigt erscheinen muss.
„Es muss gesehen werden, dass »Hauptursachen für die Krise der modernen Welt ein betäubtes menschliches Gewissen und eine Entfremdung von religiösen Werten sowie die Dominanz von Individualismus und materialistischen Philosophien sind, die den Menschen vergöttlichen und weltliche wie auch materielle Werte an die Stelle der höchsten und transzendenten Prinzipien setzen«“, schreibt Papst Franziskus im Schlusskapitel und macht damit deutlich, dass aus seiner Sicht die Gottes- und Wahrheitsfrage zentral für jene universale Vision der Liebe, von Solidarität und Geschwisterlichkeit sind, zu er die ganze Menschheit einladen und ermutigen möchte. Für die Kirche heißt das letztendlich auch, dass sie einerseits die Autonomie der Politik respektiert, andererseits aber „ihre eigene Mission nicht auf den privaten Bereich beschränkt“.
Die Enzyklika schließt mit einem umfassenden Aufruf von Papst Franziskus für Frieden, Gerechtigkeit und Geschwisterlichkeit und einem Gebet zum Schöpfer.
Mit fast 300 Fußnoten zeugt das päpstliche Schreiben auch von einer tiefen Eingebundenheit in frühere Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls und Weite der eigenen Reflexionsgrundlagen.
Karl-Olaf Bergmann