Mit seiner Masterarbeit hat Pater Georg Rota LC sein Studium „Theologische Spezialisierungen“ an der Universität Wien mit Auszeichnung abgeschlossen. Auf dieses Thema zu blicken sei zwar schmerzhaft, aber wichtig, betont er.
Pater Georg übersiedelte 2020 von Bayern nach Wien und ist dort Ordensoberer der Niederlassung der Legionäre Christi im „Zentrum Johannes Paul II.“. Noch im selben Jahr begann er an der Universität Wien zu studieren. Er wolle seine Masterarbeit auch allen Betroffenen von geistlichem Missbrauch widmen, schreibt er im Vorwort, „die bis heute keine Worte für die geistlichen Fesseln finden, mit denen sie gefangengesetzt wurden“.
Betroffenen von Missbrauch gewidmet
Franz Schöffmann sprach mit P. Georg darüber, was Missbrauch geistlicher Autorität genau bedeutet, auf welche „red flags“ zu achten ist und wie das Regnum Christi und die Legionäre Christi angesichts ihrer Geschichte mit dem Thema umgehen.
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Pater Georg, wie könnte eine kurze Definition von geistlichem Missbrauch lauten?
P. Georg: Eine exakte Definition ist schwierig. Geistlicher Missbrauch ist, wenn man sich an die Stelle Gottes setzt und seine Position missbraucht, um andere zur Befriedigung eigener Bedürfnisse auszunutzen. Ein solches Bedürfnis kann Ansehen, Geld und Sexualität sein. In dem Zusammenhang ist es interessant für mich, dass gerade die drei Evangelischen Räte dem entgegenstehen. Gehorsam steht der Macht gegenüber, Armut dem Streben nach Geld und Reichtum, Keuschheit der Sexualität.
Hier tun sich Abgründe auf …
P. Georg: Ja, es ist ein sehr schmerzhaftes, aber wichtiges Thema, vor dem man nicht zurückschrecken darf. Oder es nicht belächeln oder es aufgrund der Komplexität nicht gleich in Abrede stellen soll. Man soll mit großer Offenheit und Sensibilität darauf schauen, aber – was auch meine Motivation ist – nicht das Kind mit dem Bade ausschütten, um einerseits gut eingrenzen und andererseits möglichst gut identifizieren zu können, wo Gefahren schlummern. Es geht auch darum, das Gute und Schöne am Ordensleben, an einer geistlichen Gemeinschaft, geistlichen Begleitung und verschiedenen Traditionen des geistlichen Lebens auf gesunde und heilsame Art auch fruchtbar werden zu lassen.
Warum setzen Sie sich intensiv damit auseinander?
P. Georg: Weil das Thema mehr und mehr öffentlich diskutiert wird und in kirchlichen Gremien immer öfter auf der Tagesordnung steht. Schon beim Generalkapitel der Legionäre Christi 2020 in Rom ist mir aufgefallen, dass jeder sexuelle Missbrauch auch einen Missbrauch von geistlicher Macht beinhaltet. In der Aufarbeitung unserer Geschichte schien mir dieser Aspekt, was die Ausübung von Autorität und geistlicher Macht anbelangt, konkret zu fehlen. Deshalb habe ich mich auf den Weg gemacht, um das Thema besser zu verstehen. So sehr, sodass ich gesagt habe: Ich möchte mich auf akademischer, wissenschaftlicher Ebene mit geistlichem Missbrauch, mit spiritueller Gewalt auseinandersetzen. Um Antworten für meine eigene Geschichte und die Geschichte meines Ordens zu finden.
Welche Antworten haben Sie gefunden?
P. Georg: Eine erste Antwort ist ein besseres Verständnis dafür, was genau dieses Phänomen bedeutet und wie es abzugrenzen ist. Geistlicher Missbrauch ist ein Sammelbegriff für viele Arten von Missbrauch: mentaler Missbrauch, Missbrauch des Gewissens, Missbrauch geistlicher Macht usw. Eine zweite Erkenntnis war im Kontakt mit Betroffenen, wie verheerend sich geistlicher Missbrauch auswirkt. Eine dritte Erkenntnis: Beim sexuellen Missbrauch werden die sexuelle Intimität und Selbstbestimmung verletzt. Beim geistlichem Missbrauch wird die Beziehung zu Gott nachhaltig beeinträchtigt, beschädigt, manchmal sogar zerstört – etwas, was wir Priester eigentlich stärken und aufblühen lassen sollten. Das macht mich als Seelsorger zutiefst betroffen und hat in mir den Wunsch geweckt, in der Prävention dieser Art des Missbrauchs voranzugehen und vorauszudenken.
Wo steht man bei der Prävention?
P. Georg: Bei der Prävention gibt es innerkirchlich noch wenig Wahrnehmbares. Das kanonische Recht postuliert das Prinzip der Trennung von forum intern und forum extern, also die Trennung von Leitungsfunktion und Seelsorge. Daran halten wir Legionäre uns seit der Intervention von Papst Benedikt XVI. im Jahr 2006. Er hatte die Kongregation gebeten, dass die Oberen der Gemeinschaft nicht gleichzeitig geistliche Begleiter ihrer Gemeinschaftsmitglieder sein sollten. Also ganz konkret in meinem Fall: Hier in Wien bin ich Oberer der Hausgemeinschaft, aber nicht der geistliche Begleiter oder Beichtpriester dieser Priester. Und im Zentrum Johannes Paul II. in Wien, wo Pater George Vorgesetzter der angestellten Mitarbeiter ist, ist er nicht auch deren geistlicher Begleiter. Um eben von vorneherein Situationen zu vermeiden, die begleitete Personen in eine Gewissensnot bringen könnten.
Wir Legionäre haben eine Arbeitsgemeinschaft gegründet, um alle intern für das Thema geistlicher Missbrauch zu sensibilisieren und Schritt für Schritt präventive Maßnahmen zu ergreifen, analog zur Prävention beim sexuellen Missbrauch, an der wir seit vielen Jahren konsequent arbeiten. Wir sind unterwegs, das wird ein Dauerthema bleiben.
Was hier noch anzumerken ist: Die Diskussion des Phänomens des geistlichen Missbrauchs hat sich bisher vorwiegend auf den Kontext geistlicher Gemeinschaft fokussiert. Künftig ist es jedoch unerlässlich, diese Überlegungen auf die allgemeine Seelsorge in Pfarrgemeinden und auf die Kategorialseelsorge auszudehnen.
Das von Ihnen genannte Beispiel der Trennung von forum intern und forum extern deckt nur einen kleinen Teil der Prävention ab. Wie und wo beugt man noch vor?
P. Georg: Man muss auf die „red flags“ achten. Es gibt bestimmte Verhaltensweisen und Dynamiken, die ein Nährboden für geistlichen Missbrauch werden können und die einen aufhorchen lassen sollten. Allein schon das Bewusstsein für solche Settings, die eine Vulnerabilität, eine Verletzungsmacht haben, hilft. Zum Beispiel gibt es bei der geistlichen Begleitung ein Machtgefälle. Beide Personen sollten sich dessen bewusst sein, zu welchen Dynamiken es kommen kann und sensibel mit diesem Machtunterschied umgehen können.
Was heißt das?
P. Georg: Dass es die beste Prävention ist und das Ziel sein muss, die Mitglieder einer Gemeinschaft oder die Begleiteten einer Seelsorge immer zu einer religiösen Mündigkeit und zur spirituellen Selbstbestimmung zu befähigen, sie zu reifen Christen heranzuziehen. Und dass wir uns, wie es im Evangelium zur Sprache kommt, diese Freiheit der Kinder Gottes in unserem Leben immer mehr zu eigen zu machen. Der Zustand der Gewissens-Freiheit ist das Ziel. Dass ich in meiner Beziehung zu Gott so reif bin, dass ich in meinem Gewissen die Stimme Gottes erkennen und ihr folgen kann. Dass ich mein religiöses Leben selbstverantwortlich leben und bestimmen, mein ganzes Potenzial entfalten kann. Dass die Glaubenspraxis immer mehr in meinen Händen liegt und ich mich nicht in eine ungesunde Abhängigkeit von einer anderen Person oder Gemeinschaft begebe. Deshalb plädiere ich in meiner Masterarbeit auch dafür, zur Prävention von geistlichem Missbrauch Qualitätsstandards für die geistliche Begleitung zu etablieren.
Haben Sie weitere Beispiele für „red flags“?
P. Georg: Der geistliche Missbrauch geschieht sehr subtil und ist schwerer zu definieren als körperlicher Missbrauch, weil wir hier die psychologische Ebene betroffen ist. Ein Beispiel wäre, wenn der geistliche Begleiter oder der Leiter der Gemeinschaft absolute Bindung fordert, dass man nicht woanders beichten dürfe, dass kein anderer einem besser helfen und verstehen könne als er selbst. Eine weitere „red flag“ wäre die Kontrolle des Umfelds, wenn Beziehungen zu Freunden, zur Familie gekappt werden müssten, die Kommunikation eingeschränkt oder überwacht und dadurch eine Abschottung erzwungen werden würde.
Gibt es auch ein Beispiel für eine „red flag“, die kaum wahrnehmbar ist?
P. Georg: Natürlich. Geistliche Macht gibt es nicht nur aufgrund einer Position, zu der man ernannt wurde, beispielsweise als Bischof oder Ordensoberer. Diese geistliche Macht kann mir auch von unten, von anderen zugeschrieben werden, aufgrund von Charismen, rhetorischen Fähigkeiten oder Gaben des Heiligen Geistes. Hier gilt es ganz genau hinzuschauen, wie dieser Priester mit dem Ansehen umgeht – auch das kann eine „red flag“ sein.
Viele neue geistliche Gemeinschaften genossen einst hohes Ansehen, bis aber geistlicher Missbrauch offenbar wurde. Woran liegt das?
P. Georg: Vielleicht schon am Werden einer Gemeinschaft, bei der eine Gründerperson im Mittelpunkt steht, dort Ansehen genießt und Macht hat. Wenn sich das festfährt, kann das ungesund werden. Oder wenn man beispielsweise meint, dass man aufgrund des Charismas so etwas wie ein Retter der Kirche sein könnte. Oder sich von anderen kirchlichen Realitäten abgrenzt, um die eigene Identität zu stärken. Da beschreitet man einen schmalen Grat. Gründerpersonen weisen oft auch narzisstische Züge auf.
Sie erwähnten anfangs, dass geistlicher Missbrauch sich verheerend auswirken kann. Haben Sie Beispiele dafür?
P. Georg: Der Missbrauch von geistlicher Macht und Autorität führt zum Missbrauch des Gewissens. Ein Aspekt, der vor allem im italienischen Sprachraum mit dem Begriff abuso di coscienza betont wird. Das Französische kennt den Begriff emprise, das Wort bedeutet Selbstverlust oder Fremdkontrolle, man gerät in einen Zustand des völligen geistlichen Gefangenseins und der Erstarrung. Je länger und umfassender diese Systeme wirken, desto tiefgreifender sind die Schäden. Im schlimmsten Fall kann geistlicher Missbrauch zur Entfremdung vom wahren Selbst und zu Identitätsverlust führen. Betroffene tun sich oft schwer, den Missbrauch zu erkennen und sich dagegen zu wehren. Außerdem sind sie in emotionale Abhängigkeiten verstrickt, die ihre Fähigkeit zum eigenständigen Denken, Urteilen und Handeln massiv einschränken. Besonders perfide am geistlichen Missbrauch ist die Nutzung christlicher Werte und Ideale, um Menschen anzulocken, abhängig zu machen und im System zu halten. Neben den psychischen, emotionalen und finanziellen Schäden erschüttert geistlicher Missbrauch auch die tiefsten Schichten der Seele, führt oft zum Glaubensverlust und einer nachhaltigen Schädigung der eigenen Gottesbeziehung.
Das zeigt sich wie?
P. Georg: Alarmzeichen für die bedrückende Gesamtsituation äußern sich oft als psychosomatische Beschwerden, wie beispielsweise Schlaflosigkeit, Rücken-, Magen- oder Verdauungsbeschwerden. Dem geht oft ein Schwarz-Weiß-Denken in der Weltsicht voraus: Wir sind die Guten, die anderen die Bösen. Wir haben eine besondere Mission, wir sind besonders auserwählt, bei uns lernst du den Weg zum Heil, denn wir haben die Wahrheit, die anderen nicht.
Und wenn das beim anderen wahrnimmt, dann?
P. Georg: Angehörige von möglichen Betroffenen sollen immer die Verbindung aufrechterhalten und mit viel Geduld und Empathie zuhören. Mit der Zeit kann sich vielleicht ein kleiner Schwall entladen. Der Ausbruch aus einer geistlichen Gemeinschaft mit missbräuchlichen Mechanismen ist langwierig und erfordert viel Geduld und einen großen Kraftaufwand.
Wenn wir das andersherum betrachten: Was sind denn Merkmale gesunder geistlicher Gemeinschaften?
P. Georg: Den ersten Punkt habe ich schon erwähnt: Ein korrektes Ausüben von Autorität und Leiterschaft erfordert ein tiefes Verständnis der geistlichen Natur der Autorität im Sinne des Evangeliums, das die religiöse Mündigkeit, menschliche Würde und spirituelle Autonomie aller Mitglieder fördert. Personen in Leitungsfunktion sollen sich als Diener verstehen und ihr Handeln auf das Wohl der Gemeinschaft ausrichten. Nur so können sie dazu beitragen, ein Umfeld zu schaffen, in dem alle Mitglieder wachsen können.
Zweitens: Ausgewogenheit und Vielfalt. Der heilige Paulus führt im Galaterbrief Früchte des Heiligen Geistes an: Liebe, Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut und Enthaltsamkeit. Das erste, sich ergänzende Paar sind Freude und Friede. In einer Gemeinschaft ist es nicht genug, dass eine Atmosphäre der Freude herrscht, die auch eine rein äußerliche Fassade sein könnte. Friede muss die äußerliche Freude ergänzen, im besten Fall ist die Freude eine Konsequenz eines tieferen Friedens in der Gemeinschaft.
Auf ähnliche Weise gehen Liebe und Geduld Hand in Hand. Sanftmut ist im Gespann mit Aufrichtigkeit ein Garant dafür, dass auch schwierige Themen oder Kritik ausgesprochen werden dürfen. Die Ausgewogenheit dieser Tugendpaare kann ein guter Gradmesser zur Bewertung von Gemeinschaftsdynamiken sein. Neben der Ausgewogenheit ist Vielfalt ein wichtiges Merkmal einer gesunden geistlichen Gemeinschaft – die Fähigkeit, einzelne mit Temperament, Gaben und Fertigkeiten wertzuschätzen und in das große Ganze zu integrieren.
Danke für das Gespräch!
(Das Interview führte Franz Schöffmann.)
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Zur Person
Pater Georg Rota LC stammt aus Kempten im Allgäu und wurde 2013 in Rom zum Priester geweiht. Von 2017 an war er Regionalleiter für das Regnum Christi in Bayern und Baden-Württemberg und dort von 2019 Leiter der Erwachsenen-Sektion des Regnum Christi. Davor war er außerdem Verantwortlicher für die Jugendsektion in Bayern, priesterlicher Begleiter des Apostolats „Liebe Leben“ und Mitglied des nationalen Leitungsrates des Regnum Christi. Er wirkte dabei vor allem als Prediger von Exerzitien, geistlicher Begleiter und in der Einzelseelsorge. Mit 1. August 2020 wechselte er nach Wien, wo er die Aufgaben des Ordensoberen für die Legionäre Christi in der Niederlassung übernahm und als Priester im „Zentrum Johannes Paul II.“ wirkt. Seit Herbst 2024 ist er Mitglied im Territorialem Leitungskollegium der Regnum Christi-Föderation.
► Die Legionäre Christi und das Regnum Christi verurteilen jegliche Form von Missbrauch und Gewalt und gehen entschieden dagegen vor. Ausführliche Informationen zu unserer Präventionsarbeit in Deutschland und Österreich finden Sie auf unserer Webseite.
► „Wahrheit, Gerechtigkeit und Heilung“: Die Generalleitung der Legionäre Christi veröffentlicht jährlich einen Rechenschaftsbericht über die in Bezug auf die Unterstützung von Missbrauchsbetroffenen und die Schaffung sicherer Räume eingegangenen Verpflichtungen – hier der Jahresbricht für 2023.
► Hier können Sie die Masterarbeit von Pater Georg Rota LC als PDF herunterladen.